Frisch gewürzt
Was haben ein Forscher und eine Food-Bloggerin gemeinsam? Sie sind beide ständig auf der Suche nach neuen, verbesserten Rezepturen. Wie sie dabei vorgehen? Das haben sie beim Kochen diskutiert.
Er ist in seinem Element. Dr. Martin Letz nimmt das mitgebrachte Gläschen, dreht den Deckel auf und greift zum Teelöffel. Der Physiker zeigt die sehr dickflüssige Masse, spricht vom ausgewogenen Verhältnis zwischen Absorption und Streuung, Kristallbildung und der richtigen Balance zwischen den Zutaten. „Abhängig vom Verhältnis der unterschiedlichen Zuckersorten im Nektar der Blüten erfolgt der Kristallisationsprozess im Honig schneller oder langsamer“, sagt er. Dabei spielen Temperatur und Zeit eine wichtige Rolle. Mögliche Ergebnisse: eine eher cremige, feste oder zähflüssig, transparente Konsistenz.
Martin ist bei SCHOTT in der Materialentwicklung für Glas und Glaskeramik tätig. Heute lädt der Hobby-Imker zur Verkostung ein. Nach einigen Minuten wird der Inhalt bei Raumtemperatur zähfließend. Auf dem Teelöffel ist Honig. Rund 100 Kilogramm stellt er pro Jahr in seiner Freizeit her. Was das Hobby mit seinem Beruf zu tun hat? „Die Herstellung von Glas ist wie Kochen. Und im Fall von Glaskeramik ist sie vergleichbar mit der Honigherstellung“, sagt er und macht Appetit auf mehr.
Doppelte Expertise am Herd
Martin arbeitet an diesem Tag nicht im Labor. Er steht in einer Küche. Der edle schwarze Look und die offene Gestaltung machen aus ihr einen Erlebnisraum. Mitten im großzügigen Arbeitsbereich befindet sich ein schwarzes Glaskeramik-Kochfeld der Marke CERAN® von SCHOTT. Selbst Wasserhahn und Spülbecken sind schwarz. Und Martin ist nicht allein. Mit dabei ist Tanja Farwick. Die Food-Bloggerin aus Münster hat das Honig-Insiderwissen aufmerksam verfolgt. „Mit Essig und Öl bekommen wir ihn auch flüssiger, oder?“, möchte die Gastgeberin des ungewöhnlichen Kochevents wissen. Martin nickt und bemerkt: „Aber Honig steht doch gar nicht im Rezept…?“ Man müsse auch bereit sein, mal was Verrücktes zu machen. Ein neues Rezept zu entwickeln, habe schließlich viel mit Mut und Kreativität zu tun, sagt Tanja. Martin stimmt zu. Er kennt das aus der Glasentwicklung. Der einzige Unterschied: Bei der Zubereitung des Carpaccio-Dressings kann nicht so viel schiefgehen wie bei der Glasschmelze. Der Honig passt perfekt zum Orangensaft, Olivenöl, Balsamico und Agavendicksaft. „Süße Aromen sind immer gut“, sagt Tanja und rührt alles zusammen. Martin probiert: „Etwas Pfeffer würde ich noch hinzugeben.“ Nun nickt Tanja. Fertig. Das Dressing steht fein abgestimmt parat.
Tanja hat in der Küche zwar ein Heimspiel, der Live Talk mit Martin ist aber auch für sie ungewöhnlich. Doppelte Expertise am Herd aber mit extrem unterschiedlichen Betätigungsfeldern. Zumindest auf den ersten Blick. Tanja ist Influencerin. Aber diese Bezeichnung mag sie nicht. Koch-Entrepreneurin ist da schon besser. Food-Fotografin auch. „Ich bin weder eine gelernte Köchin noch eine Fotografin“, erzählt sie. Aber genau mit beiden Dingen verdient sie ihren Lebensunterhalt. Sie ist ein Teil des Food-Blogs Foodistas. Sie ist kreativ, hat ein gutes Gefühl für Aroma-Kombinationen und sprüht vor Ideen, wie ein Blick in ihren Instagram-Kanal deutlich macht. Zweimal in der Woche veröffentlicht sie ein neues Rezept. Neue Kreationen zu entwickeln, ist für sie Alltag. Zu erfahren, was das alles mit der Glasentwicklung zu tun hat, ist dagegen Neuland.
Wer sind die Foodistas?
Hinter den Foodistas stecken mit Carina, Tanja, Jasmin und Tine zweimal zwei Schwestern aus Osnabrück, Münster und Mainz. Seit 2014 teilen sie ihre Leidenschaft für Food und Travelling. Denn kochen und backen sind für das Quartett eine Herzensangelegenheit. Sie entwickeln Rezepte, setzen konsequent auf saisonale und regionale Küche und veröffentlichen diese vor allem auf ihrem Blog www.foodistas.de. Für SCHOTT hat Tanja drei ungewöhnliche Rezepte entwickelt, zusammen mit einem Glasexperten gekocht – und dabei jede Menge Gemeinsamkeiten entdeckt.
Die Reise zum Rezept
Die Suche nach neuen Rezepten beginnt stets mit einer Bestandsaufnahme. Für Tanja ist es der Blick in die Kochbuchsammlung oder ein Ausflug ins Restaurant. Und natürlich der Austausch mit Freunden und ihren drei Mit-Bloggerinnen. „Man geht von bewährten Rezepten aus und modernisiert sie“, sagt Tanja. Konkret bedeutet das heute: Das Carpaccio wird aus Rote Beete gemacht, dazu Feta, Rucola, Walnüsse – und das bereits angerührte Dressing mit Martins Honig.
Martin hat die Rote Beete gekocht und anschließend in dünne Scheiben geschnitten. Aber die Food-Expertin zieht den Joker. Das Carpaccio wird um einige rohe Scheiben angereichert, eine Art knackige Überraschung. „Wir bleiben nicht statisch bei unserem Rezept“, so Tanja. Martin kennt das. Auch wenn bei der Glasentwicklung das tiefe Verständnis für Physik und Chemie eher die treibenden Kräfte sind. „Wir überlassen da viel weniger dem Zufall“, sagt der Festkörper-Physiker. Während sich beim Kochen fast alles um den Geschmack dreht, gibt es bei Glas viele andere Ansätze für Neuentwicklungen.
Am Anfang eines neuen Glasrezepts steht die Spezifikation. Also eine große Portion Theorie. Was soll das Glas können? Welche Eigenschaften darf es nicht haben? Welche Rolle spielt eine unkontrollierte Kristallbildung, wie lässt sie sich verhindern? Welche Prozesseigenschaften sind wichtig? Oder auf das Kochen übertragen: vegetarisch oder Fleisch, italienisch oder asiatisch. Aber auch: passt das Brot in den Ofen oder brauche ich einen größeren? Und wenn der neue Ofen zu teuer wäre, ist vielleicht Mehl mit einem neuen Mahlgrad die Lösung? „Je besser ich meine vorhandenen Daten und Anforderungen kenne, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich auch bei einem vernünftigen Produkt lande“, weiß Martin. Eine gut gepflegte Datenbank, in die jede neue Versuchsschmelze aufgenommen wird, alte Ordner, Patentsammlungen und das große Know-how aller SCHOTT Expertenteams bilden für Martin die wichtigsten Informationsquellen zu Beginn jeder Rezeptentwicklung. Wie entscheidend diese Recherche-Vorarbeit ist, unterstreichen Zahlen. Nur ungefähr jedes zwanzigste Entwicklungsprojekt führt am Ende auch zu einem Produkt.
Wie entsteht Glaskeramik?
Nach den in der Glastechnologie üblichen Methoden wird zunächst eine Glasschmelze aus den dafür geeigneten Rohstoffen geschmolzen, geläutert, homogenisiert und schließlich heißgeformt. Nach dem Abkühlen und Entspannen des glasigen Rohlings folgt eine Temperaturbehandlung, bei der das Glas durch kontrollierte Volumenkristallisation in eine Glaskeramik überführt wird. In ihrem Inneren bilden schon der Schmelze zugesetzte Stoffe jetzt winzige Keimkristalle, an denen mit steigender Temperatur sogenannte Hochquarz-Mischkristalle wachsen. Diese haben die Eigenschaft, sich bei Erwärmung zusammenzuziehen. Hierdurch wirken sie der Wärmeausdehnung von reinem Glas entgegen. Die Glaskeramiken von SCHOTT überstehen so Temperaturschocks von mehreren hundert Grad Celsius ohne zu zerspringen. Mehr erfahren
Von Versuchen und Verfahren
Tanja und Martin spielen in der Küche Doppelpass. Die Food-Bloggerin erzählt, wie sie auf die Idee gekommen ist, aus Rote Beete auch Hummus zu machen: „Warum nicht? Mir hat Rote Beete früher nicht geschmeckt, daher musste ich sie so zubereiten, dass ich sie mag.“ Es folgte ein Kreationsprozess aus vielen Versuchen. Solange, bis sie ihr Ziel erreicht hat. In ihrem Fall helfen dabei vor allem griechischer Joghurt, Dattelsirup, Knoblauch und Chiliflocken. Martin probiert das Püree und ist begeistert. „Das hat ja eine asiatische Note“, sagt er. Tanja grinst. „Das liegt an der Za'tar Gewürzmischung für den exotischen Geschmack.“ Manchmal entscheiden Kleinigkeiten. Das gilt auch im Labor.
Zusammenmischen, ausprobieren und dann verfeinern – das kennt Martin aus seinem Alltag. Im Gegensatz zum Experiment am Herd nähert er sich einer neuen Glasrezeptur wesentlich systematischer und setzt dabei auf zwei Methoden. Beim sogenannten Straight-Forward-Verfahren vertraut er auf das vorhandene Grundwissen bei SCHOTT und seine Erfahrung. Wenn beispielsweise bei einem optischen Glas nur der Brechwert oder die Schmelztemperatur verändert werden sollen, weiß er genau, welche Stellschrauben es dazu gibt. Auf die Herstellung des Teigs für das Naan-Brot übertragen, bedeutet das, die Zutaten Mehl, Hefe und Wasser sind bekannt.
Nun gilt es, diese so abzustimmen, dass der gewünschte Teig herauskommt. „Cook and look“, sagt Martin. Denn am Ende wird die Theorie immer in die Praxis übertragen. Das Phasendiagramm hilft ihm dabei. Es ist ein wichtiges Hilfsmittel in der Materialentwicklung zur Veranschaulichung von Zuständen und deren zugehörigen Phasen. Mit ihm können die Komponenten in ein Wirkungsverhältnis gesetzt und die Auswirkungen von Justierungen am Rezept veranschaulicht werden. Und dann wird nachgebessert. „Wir machen 100 Testschmelzen, um die eine herauszufinden, die wir dann nutzen können“, sagt Martin, „aber die anderen 99 haben mich trotzdem weitergebracht, da ich aus ihnen gelernt habe.“
Aber bei vielen Entwicklungen betreten die Forschungsteams auch Neuland. Mit Design-of-Experiments (DOE) setzen sie in diesem Fall auf eine statistische Versuchsplanung und die Macht der Simulation. Das systematische Verfahren hilft, um aus einer Vielzahl von Parametern die relevanten Einflussfaktoren für ein Produkt zu ermitteln. Mit Hilfe eines Versuchsplans werden diese Faktoren weitgehend unabhängig voneinander variiert, um deren Effekte auf die Zielgrößen und damit ein Ursache-Wirkungs-Modell abzuleiten. Bei der Glasentwicklung sind es zwischen sieben und 15 Dimensionen, die berücksichtigt werden müssen. Am Ende errechnet der Computer ein mathematisches Modell, mit dem neue Zusammensetzungen und deren Eigenschaften simuliert werden können. Nur die erfolgversprechendsten Glasrezepte werden dann in der Praxis nachgekocht. „Ansonsten wäre das so, als wenn ich Teig jeweils mit einer um ein Grad höheren Temperatur in den Ofen schiebe, nur um herauszufinden, welches die optimale Backtemperatur ist“, sagt Martin.
Ein Periodensystem voll Möglichkeiten
Erfahrung spielt eine große Rolle. Am Herd und im Labor. Manchmal überrascht der Zufall aber auch die graue Theorie. Die Grundlage für eine neue Glaskeramik wurde fast beiläufig gelegt. Glaskeramik-Experte Friedrich Siebers ging mit großem Forschergeist einer Beobachtung nach. Er wollte genau wissen, wo sich gewisse Komponenten einer neuen Färbung anlagern. Er machte einige Versuche und bekam an manchen Stellen eine graue Anmutung. Das war die Basis für die Entwicklung der nächsten Glaskeramik-Generation, die helle, klare und farbechte Lichtlösungen im Kochfeld ermöglicht. „Die Initialzündung war Zufall, aber danach folgte eine Entwicklung mit harter Arbeit und viel Schweiß, bis daraus ein fertiges Material wurde“, erinnert sich Martin.
Der Prozess der Glaskeramik-Herstellung bietet mehrere Optimierungsansätze, speziell beim Schritt der Keramisierung. „Ich kann zum Beispiel bei den Temperaturprogrammen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit meine Zieltemperaturen erreichen oder ich kann die Höhe eines Temperaturniveaus variieren. Dadurch kann ich die Eigenschaften der Glaskeramik extrem stark verändern“, erzählt Martin. Das Ergebnis könne ein transparentes Material sein, bei dem man durchschauen kann. Aber unter dem Einsatz höherer Temperaturen sei ein opakes Material genauso möglich. Das sei ungefähr so wie beim Brotbacken. Wenn ein Teig länger gebacken wird, kommt am Ende kein fluffiges Naan, sondern vielleicht Knäckebrot raus.
Die neue Glaskeramik ist nur ein Beispiel dafür, wie SCHOTT einen Werkstoff immer wieder neu erfindet. Und ein Ende ist nicht in Sicht. „Uns stehen für Verbesserungen und Neuentwicklungen das halbe Periodensystem zur Verfügung“, sagt Martin, „man nimmt ein bestehendes System, wirft eine weitere Komponente rein – und erhält etwas komplett Neues.“ Das mache den großen Reiz von Glas und Glaskeramik aus. Wie beim Kochen. Salz hilft beim Würzen, in anderer Zusammensetzung kann es aber auch die Eigenschaften verändern und Lebensmittel haltbar machen. Kleine Ursache, große Wirkung. Das weiß auch Tanja. Dann hackt sie eine Handvoll Haselnusskerne und röstet sie in der Pfanne kurz an. Zusammen mit frisch geriebenem Meerrettich verfeinert sie damit den Rote Beete Hummus. Es ist angerichtet. „Ausprobieren ist wichtig“, schmunzelt Martin. Besonders heute, schließlich ist frisch gewürzt.